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Elisabeth Heyne: Persönliche, vergessene und bisher unerzählte Geschichten im Anthropozän

Welche Form von Wissenschaft braucht es, um das Anthropozän zu erfassen? Welche Form von Wissenstransfer ist nötig, um gesellschaftliche Prozesse anzustoßen, die auf diese Erkenntnisse entsprechend reagieren. Und welches gesellschaftliche Wissen sollte im Umkehrschluss stärker in die Erforschung des Anthropozäns einbezogen werden?

Die erdsystemwissenschaftlichen Erkenntnisse, die unsere Gegenwart genauso erschüttern wie die global bereits beobachtbaren Folgen des sogenannten „Zeitalter des Menschen“, verlangen dringend nach adäquaten Wahrnehmungs- und Darstellungspraktiken, auf wissenschaftlicher wie auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Davon zeugt nicht zuletzt der lauter werdende Ruf nach effizienteren Formen der Wissenschaftskommunikation, nach gesellschaftlich wirksamen Visualisierungen und Erzählweisen. Und davon zeugt auch die Verengung des öffentlichen Diskurses auf Schlagwörter wie Klimakrise oder Klimawandel. Denn der Versuch, fassbar zu machen, wie sich derzeit die Grenzen zwischen menschlicher, technischer und natürlicher Sphäre verschieben, welche historischen Machtkonstellationen zu dieser Verschiebung geführt haben und welche komplexen Interdependenzen heute zwischen diesen Sphären bestehen – all das also, was sich hinter dem Begriff des Anthropozäns verbirgt – , läuft häufig über emblematische Bilder: Beispielhaft sind die Luft- oder Drohnenaufnahmen des abbrennenden Regenwaldes oder aber die klassischen wissenschaftlichen Abbildungen zum Anthropozän, wie die bekannten Graphen zur Great Acceleration (Steffen et al. 2004; Steffen/Will 2015). Der Ansatzpunkt des Projekts liegt nun in der Überzeugung, dass diese Formen der Visualisierung zwar jeweils wichtige Funktionen erfüllen, dass es allerdings alternative Darstellungspraktiken und Erzählweisen braucht, um das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Gesellschaft und Natur in einer Zeit, in der menschliche Aktivitäten entscheidend in die Prozesse des Erdsystems eingreifen, auch gesellschaftlich wirksam öffentlich zu diskutieren. Wie kann es zum Beispiel gelingen, die für das Anthropozän typischen Skaleneffekte, das Zusammenspiel von lokaler und globaler Ebene, von Erdzeit und Menschenzeit jenseits distanzierter Drohnenperspektive und wissenschaftlicher Abstraktion „ins Bild“ zu setzen?

Mit Blick auf breite gesellschaftliche Diskussionen kann es lohnenswert sein, an der Verwendung des Begriffs Anthropozän trotz aller berechtigter Kritik zunächst einmal festgehalten: In seiner Bedeutung als Reflexionsmoment, eines Bruchs im (vorrangig) westlich geprägten Denken dient er dazu, auf die Macht bzw. Ohnmacht menschlicher Aktivitäten auf der Erde, die Fluidität der Grenzen zwischen Natur und Kultur und die Eigendynamiken der Technologien in unserer Gegenwart hinzuweisen – und damit auch auf die Inkompatiblität des traditionellen Wissenschaftssystems, wie es sich im 19. und 20. Jahrhundert ausdifferenziert hat: Das Anthropozän verlangt eine grundlegende Neuorientierung in der Wissensproduktion und Wissensorganisation, um die notwenigen Erkenntnisse über das Erdsystem zu produzieren. Es verlangt zugleich danach, dass Politik, Wissenschaft und Gesellschaft in ein neues Verhältnis treten, weil sie alle – und dies zeigen die polarisierenden Debatten zu den jüngsten Umweltereignissen sowie zur Energiekrise einmal mehr – unauflösbar aufeinander angewiesen sind, wenn es darum geht, konkrete Lösungsansätze zu finden und diese auch umzusetzen. Gleichzeitig ist die Rede von dem Anthropozän irreführend: Globale Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten sind definierende Bestandteile dieses Zeitalters, die durch die Rede von der (einen) Menschheit in den Hintergrund treten (vgl. neben vielen anderen die Kritik von Malm/Hornborg 2014). Es hängt untrennbar vom jeweiligen sozialen, geografischen und kulturellen Standpunkt ab, mit welchem Anthropozän jemand es zu tun hat und wie er dem ausgeliefert ist (siehe dazu auch Hecht 2018). Statt großer Erzählungen bedarf es einer Vielzahl an Stimmen, um sich dem neuen Zeitalter zu nähern. In diesem Sinne bedarf es einer Umkehrung der Perspektive: Statt Draufsicht aus Drohnenperspektive lohnt es, von individuellen Wahrnehmungen und lokalen Beobachtungen auszugehen, um über globale Skalierung nachdenken zu können, auf der Suche nach dem jeweils eigenen, persönlichen Anthropozän, das immer auch aufs Engste mit der globalen Konstellation verwoben ist.

In einem Verbundprojekt an den Museen für Naturkunde in Berlin und Paris entsteht derzeit ein Projekt, das sich mit solchen individuellen Perspektiven ebenso wie mit Fragen zu Gesellschaft, Politik und Wissenschaft im Anthropozän befasst. Unter dem Titel „Natur der Dinge. Eine partizipative Sammlung des Anthropozäns“ wurde von einem interdisziplinären und internationalen Projektteam eine interaktive digitale Plattform entwickelt, die zu einer solchen Umkehrung der Perspektive einlädt: Nicht Wissenschaftler:innen definieren hier das Anthropozän. Stattdessen stellt die Plattform einen Raum zur Verfügung, der zur Reflexion darüber einlädt, welche Wahrnehmungen, welche Geschichten und welche Erinnerungen die Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur heute prägen. Interessierte können auf der dreisprachigen Plattform eigene Objekte und Geschichten zu Umweltveränderungen beitragen. Innerhalb dieses Projekts gehen wir davon aus, dass es die persönlichen, vergessenen und bisher unerzählten Geschichten über die aktuellen Umweltveränderungen braucht, um zu fragen von welchen Menschen ist im „Anthropozän“ eigentlich die Rede? Wer ist verantwortlich und wer in der Position, zu handeln? Jenseits von Begriffskritik interessieren wir uns für integrative Kraft des Konzepts für ganz verschiedene Diskurse zwischen Kunst, Natur- und Geisteswissenschaft und Gesellschaft. Gleichzeitig fokussieren wir mit dem Projekt die materielle Kultur des Anthropozäns: Wir fragen danach, was uns die persönlichen und lokalen Zeugnisse sich verändernder Natur – Alltagsgegenstände, Erinnerungsstücke, Dinge und Dokumente aus der Vergangenheit – über aktuelle globale Transformationen erzählen? Denn das Sammeln und (Neu-)Ordnen von Objekten ermöglicht es, die Verflechtung individueller und kollektiver Naturerfahrungen, des Lokalen und des Globalen beobachtbar zu machen. Wir führen unser Experiment im Digitalen durch, weil es uns auch darum geht, das Sammeln neu zu erkunden. Wir konzentrieren uns dabei nicht auf physisch an einem Ort versammelte Objekte, sondern auf neue und andere Sichtweisen ebenso wie dynamische Verknüpfungen und Diskussionen. Das Projekt zielt also darauf, mit Partizipation als integralem Bestandteil wissenschaftlicher Praxis zu experimentieren und neue Wissensmodelle und Wissenschaftsformen für das Anthropozän zu erproben. Zugleich sollen dabei traditionell aus der Wissenschaft teils oder ganz ausgeschlossene Wissensbestände und Akteure stärker in den Fokus gerückt werden.

Einen Zugang zum Anthropozän über das Sammeln vorzuschlagen, erlaubt es schließlich auch, das Sammeln als Wissenspraktik selbst zu reflektieren. Eine Reihe sammlungspolitischer Fragestellungen, die das aktuelle Projekt zum Ausgangspunkt nehmen, aber weiter darüber hinausgehen, lassen sich hier anknüpfen: Wer sammelt eigentlich im Anthropozän? Wessen Objekte sind es wert, für die Zukunft aufbewahrt zu werden? Wer stellt Verbindungen zwischen den Sammlungsobjekten her und für wen sind Sammlungen zugänglich? Und wie können wir das Wissen verschiedener Akteure und Gemeinschaften in (naturkundliche) Sammlungspraktiken integrieren und multiperspektivische Formen der Wissensgenese für das Anthropozän erproben? All diese Fragen führen letztlich zurück und sind Bestandteil der grundlegenden und anfangs angestellten Überlegung, welche Wissenschaft und welche Formen des Austauschs von Wissen eigentlich nötig sind, um dem Anthropozän etwas zu entgegnen – oder dies zumindest in Form eines Experiments zu versuchen.

Weitere Informationen zum Projekt: NaturderDinge.de

Zitierte Literatur

Hecht G. The African Anthropocene. AEON. 6 February 2018. https://aeon.co/essays/if-we-talk-about-hurting-our-planet-who-exactly-is-the-we

Malm A and Hornborg A (2014) The geology of mankind? A critique of the Anthropocene narrative. The Anthropocene Review 1: 62–69

Steffen W, Sanderson A, Tyson PD et al. (2004) Global Change and the Earth System: A Planet Under Pressure. The IGBP Book Series. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag Steffen W, Broadgate W, Deutsch L, Gaffney O, Ludwig C. The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. The Anthropocene Review. 2015;2 (1):81-98. doi:10.1177/2053019614564785