Den Anthropozändiskurs habe ich erstmals um 2016 stärker rezipiert in meiner eigenen Forschung im Rahmen der (damals aufkommenden) ‚Energy Humanities‘. Konkret arbeitete ich damals an einem Projekt der den Zusammenhang des Kapitalismus mit dem fossilen Energiesystem sowie die systemischen Grenzen staatlicher Intervention in diesem Verhältnis beleuchtete.
Unorthodox: Ein materialistischer und dialektischer Zugang
Mein materialistischer Zugang zu diesen Fragen ist insofern unorthodox, als er sich auf die ältere Kritische Theorie (Frankfurter Schule) bezieht und dort das Theorem der gesellschaftlichen Naturverhältnisse (ursprünglich von Alfred Schmidt) als metatheoretische Basis heranzieht. Dieses geht von einer dialektischen Beziehung von Gesellschaft und Natur aus. Die Dualität beider ist also nicht aufzulösen, im Konzept der zweiten Natur wird jedoch ein spezifisches Verständnis der Vermittlung entwickelt, welches Motive der Verselbständigung und Verdinglichung impliziert, wie sie in der Fetisch- und Ideologiekritik nach Marx zu finden sind.
Aus dieser Perspektive wurde der Anthropozänbegriff als reduktionistisch und ahistorisch kritisiert und stattdessen das Konzept des Kapitalozäns eingeführt, zuerst von Jason Moore in den USA und Elmar Altvater in Deutschland. Ein eigener Artikel aus dem Jahr 2017 beschäftigt sich mit diesem damals noch eher spezifischen Diskurs[1].
Anthropozändiskurs: Eine historisch-kritische Einschätzung
Seit dem Erscheinen meines Artikels ist eine enorme Pluralisierung der Debatte zu bemerken – sei es in der Kunst, den Kulturwissenschaft, oder auch der ‚Pop-Culture‘ selbst. Ich verstehe dieses Interesse v.a. als Sehnsucht nach einem ‚großen‘ Deutungsrahmen, der Sinn in einer Zeit der Unsicherheiten und Krisen gibt. Auch sozialwissenschaftlich steigt das Bedürfnis nach Periodisierung und Einordnungsversuchen von großen Umbrüchen. Der Anthropozändiskurs ist also nicht deshalb so populär, weil er die wissenschaftlich akkurateste Beschreibung des Problemzusammenhangs darstellt, sondern weil er einen Zeitgeist trifft und griffig ist, viel zu beschreiben vermag.
Aus kritisch-materialistischer Perspektive betrachtet weist der Diskurs folgende wissenschaftliche Stärken auf:
- Es handelt sich um den Versuch, ein metatheoretisches Framework zu entwickeln, das die gesellschaftlichen Naturverhältnisse systematisch reflektiert
- Es kommt zur dezidierten Auseinandersetzung mit Brüchen, Krisen und Verwerfungen – entgegen harmonistischer Modernisierungstheorie und postmoderner A(nti)-Historizität
- Gesellschaftliche Produktivkräfte und ihre Konsequenzen werden thematisiert
- Debatten über Gesellschaft im Kontext von historischer Entwicklung werden –
nach dem (neoliberalen) ‚Ende der Geschichte‘ und der ‚Dekonstruktion von Gesellschaft‘ – neu eröffnet
- Zentrale Fragen unserer Zeit werden thematisiert (Ökologie, Ökonomie, Krise)
- Die Kategorie ist medienwirksam und populär verständlich
Die Stärken sind im Verhältnis zu den Schwächen zu sehen – und bedingen diese teils unmittelbar:
- Das Narrativ ist so breit, dass es zu großen Unschärfen kommt, fast alles lässt sich unter dem ‚Umbrella-Term‘ subsumieren. Postmoderner Relativismus kommt so durch die Hintertür erneut in die eigentlich materiell fundierte Debatte herein
- Positivistisch-naturwissenschaftliche Debattenstränge laufen Gefahr, (vermeintliches) Fachwissen auf Basis unkritischer Naturalismen zu produzieren – oft mit dem Resultat eines deterministischen Katastrophismus
- Andere Stränge vertreten einen unkritischen, neo-promethianischen Technikfetischismus
- Periodisierung ist wichtig, aber auch voraussetzungsvoll und vielfach normativ gefärbt
- Der ‚anthropos‘ im Anthropozän ist eine gefährlich ahistorische und falsch universalisierende Kategorie. Treffsicher ist das Konzept nur dann, wenn es spezifische Naturverhältnisse und gesellschaftliche Mechanismen benennt (deshalb auch der Vorschlag des Kapitalozäns).
- Generell besteht die Gefahr, dass der Diskurs – wie alle ‚fancy debates‘ mit möglichen ‚leeren Signifikanten‘ – übermäßig für die jeweilige eigene (normative) ‚Missionen‘ verwendet wird und das wissenschaftliche Fundament verlorengeht
Anthropozän und Klimakrise – welche Grenzen?
Es ist evident, dass der Anthropzändiskurs vor dem Hintergrund ökologischer Fragestellungen entwickelt wurde, der Zusammenhang zur Klimakrise ist ein unmittelbarer. Die Klimakrise repräsentiert eine ‚harte‘, stoffliche Grenze der Gesellschaftsformation, in der wir leben. Es ist jedoch verkürzt, die Krisendimension des Anthropozäns auf die globale Erwärmung zu reduzieren, da sie eher der Effekt als die Ursache hinter den Problemen ist.
Systemisch lässt sich der Kausalzusammenhang auf die teleologische Beschleunigungsdimension (Hartmut Rosa) unserer Gesellschaft zurückführen. Dahinter steht der Kapitalimperativ, welcher progressive Entwicklung in einer bestimmten Form erzwingt – abstraktes Wachstum, das gleichgültig gegenüber Menschen und Natur ist. Wir haben es also mit einer Krise der kapitalistischen gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu tun.
Die Basis dafür ist maßgeblich das fossile Energiesystem, welches historisch aufs engste mit der Geschichte des Kapitalismus, mithin auch des Kapitalozäns verwoben ist. Nicht nur ist der sogenannte Energy-Return-On-Investment bei fossilen Energieträgern aus der zeit-räumlich beschränkten Verwertungsperspektive des Kapitals unschlagbar günstig, auch ist die gesellschaftliche Infrastruktur systematisch auf eine mit Fossilismus verwobene ‚energetische Logik‘ ausgerichtet. Dies hat weitreichende Folgen für die Einschätzung der Krisenhaftigkeit des Anthropozäns bzw. der inhärenten (stofflichen wie sozialen) Grenzbestimmungen. Vor diesem fossilen Zusammenhang ist letztlich auch die Frage der Periodisierung des Anthropzäns bzw. Kapitalozäns zu klären.
Wie das Anthropozän kritisch weiterdenken?
Aus der präsentierten kritisch-materialistische Perspektive ist ein integraler Blick auf die gesellschaftlichen Naturverhältnisse nötig, der eine Vertiefung und Spezifizierung des Anthropozänkonzepts notwendig macht. Die Möglichkeit, hier an das Kapitalozän-Theorem anzuschließen erscheint fruchtbar, es gibt allerdings auch in diesem Diskurs noch einige theoretische wie empirische Desiderate. Wichtige Themen sind neben der bereits erwähnten Frage der Periodisierung
- die Aufarbeitung der fossilen Materialität des Kapitalozäns
- die Auseinandersetzung mit den spezifischen Formzwänge, die – über den rein ökonomischen Zusammenhang hinaus – die kapitalistische Gesellschaftsformation ausmachen
- die ideologiekritische Sondierung des (impliziten) anthropologischen Universalismus im Anthropozändiskurs
- die Rolle des Staates bzw. generell die Frage der (Grenzen der) politischen Gestaltbarkeit des (oft eher deterministisch konzipierten) ‚Erdzeitalters‘
- die Verständigung über die metatheoretischen Dimensionen einer materialistischen Theorie des Anthropozäns (bzw. deren Antagonismus zu anderen Deutungen)
- kritische sozialwissenschaftliche Begleitforschung zu den naturwissenschaftlichen ‚Daten‘ (bzw. deren Entstehung und Hintergründe)
- Sozialwissenschaftliche empirische Forschung zum Verhältnis kontingenter und kausal mit systemischen Krisendimensionen verbundenen Transformationen (z.B. neue Kriege, Pandemien, Populismus, Aushöhlung repräsentativer Demokratien und Entstehung neuer Autoritarismen, sozialpsychologisch relevante Veränderungen der Enkulturation in vielen westlichen Gesellschaften)
Angesichts des Anthropozändiskurses besteht jedoch keine Notwendigkeit, das wissenschaftliche Rad neu zu erfinden. Die Entwicklung von Neologismen, kreativen (begrifflichen wie theoretischen) Collagen und gewagten Metaphern, wie sie z.B. vor dem Hintergrund des ‚New Materialism‘, ist weit verbreitet, liefert letztlich oft wenig Erkenntnisgewinn. Vieles deutet für mich darauf hin, dass derartig ausgedehnte Anschlüsse eher einer Selbstvermarktungslogik neoliberal ge-mainstreamter akademischer Verhältnisse geschuldet sind, als dass sie dem Ziel folgen, tatsächliche Zusammenhänge möglichst einfach (und dennoch hinlänglich komplex!) darzustellen. Einem gewissen Parsimoniegebot zu folgen würde einigen Diskurssträngen guttun.
Mit dem Anthropozän denken bedeutet weniger eine kategoriale Neuorientierung im Sinne eines systematischen Paradigmas als eine Anlehnung an einen wirkmächtigen Diskurszusammenhang, der bestehende Kategorien und empirische Erkenntnisse darstellbar macht. Dies steht im Widerspruch zu rhapsodischen Aneignungen, die v.a. diskurstheoretisch an das Konzept anschließen. Diesbezüglich geht es aus einer materialistischen Perspektive maßgeblich um eine wissenschaftstheoretische Verständigung und dabei eine klare Positionierung gegenüber poststrukturalistischen Entwürfen, aber vermehrt auch den erwähnten neuen Materialismen. Hierfür ist letztlich die gesellschaftstheoretische Verortung von struktiver Bedeutung: Es gilt, die vorhandenen Fundamente kritisch-dialektischer materialistischer Zugänge in den Diskurs einzubringen und zu aktualisieren, und auf dieser Basis Deutungswissen für die Krisen des 21. Jahrhunderts zu produzieren.
[1] Flatschart (2017) Anthropozän oder Kapitalozän? Der emanzipatorische Gehalt ökologischer Krisenbearbeitung zwischen Gesellschaft und Technik. In: Buckermann, Paul/Koppenburger, Anne/Schaupp, Simon: Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen. Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandel. Unrast, Münster, 127-161